Indem man sich von einer Biene stechen lässt – unter ärztlicher Aufsicht, versteht sich. Wir waren bei einer sogenannten „Kontrollierten Stichprovokation“ dabei. Und wissen nun auch, warum manche Mediziner nebenbei Imker sind…
Sie betrachtet das kleine Tier durch die trübe Plastikbox. Noch ist es gefangen. Noch kann es ihr nichts tun. Trotzdem pocht Roselinde Knörzers Herz gleich zehn Takte schneller.
Auch ihre Hände werden feucht. Obwohl die kleine Biene nur bis zu 140 Mikrogramm Gift abgeben kann, reicht schon ein einziger Stich für einen tödlichen Zusammenbruch. Denn Roselinde Knörzer gehört zu den etwa drei Prozent der Bevölkerung, die auf Insektengift hochallergisch reagiert. Deshalb stehen auf ihrem Nachtkästchen sämtliche Notfallmedikamente bereit, auch ein Zugang ist gelegt – der Oberarzt des Allergiezentrums Heilbronn-Franken, Dr. Philipp Amann, hat sich auf diese potentiell lebensbedrohliche Situation perfekt vorbereitet. Gleich soll seine 59-jährige Patientin kontrolliert gestochen werden. So will der Mediziner prüfen, ob die Hyposensibilisierungs-Therapie funktioniert hat.
Um eine echte Reaktion zu provozieren, nimmt man für den Test echte Tiere. Für die meisten Betroffenen ist dieser Versuch ein Alptraum. Schließlich haben sie alle bei ihrem letzten Stich hochallergisch reagiert – wie Frau Knörzer. „Immerhin kann ich mir deshalb sicher sein, dass das Medikament auf meinem Nachttisch im Notfall schnell wirkt“, versucht sie, sich selbst Mut zuzureden. Ihr Magen kribbelt trotzdem, als wäre er selbst ein Bienenstock. „Ich habe extra besonders aktive Tiere ausgesucht“, verkündet der Arzt, woraufhin seine Patientin noch etwas tiefer in ihre Liege rutscht. Dr. Amann beruhigt sie: „Es passiert nur ganz selten, dass ein Patient bei der Stichprobe eine heftige Reaktion zeigt, vielleicht in zwei bis drei Prozent der Fälle.“ Roselinde Knörzer lächelt schwach. Denn sie weiß: In diesem Moment kann noch niemand sagen, ob sie zu diesen kritischen zwei bis drei Prozent gehören wird …
Insektengiftallergiker reagieren nicht nur an der Stichstelle
Als die Arzthelferin zum ersten Mal gestochen wird, ist sie Anfang 20. „Damals ist mein Arm von unten bis oben angeschwollen.“ Typische Allergie-Symptome sind auch: Juckreiz am ganzen Körper, tränende Augen, Übelkeit, Bauchkrämpfe, Erbrechen, Angstzustände, Atemnot, Herzrasen und Schwächegefühl. Roselinde Knörzer: „Ich bin damals sofort in die Klinik gerast. Dort haben sie mir Kalzium gegeben und Kortison gespritzt.“ Obwohl die Situation nicht lebensbedrohlich war, erkennen die Ärzte: Roselinde Knörzer gehört zu den drei Prozent der Deutschen, die allergisch auf Insektengift reagieren. Deshalb trägt sie seit diesem ersten Stich immer ein Notfallset bei sich: mit einem schnell wirkenden Antihistaminikum, einem Kortison-Präparat und einer Adrenalin-Notfallspritze – in der Sporttasche beim Tennistraining, in der Handtasche, wenn sie abends ausgeht. Die große Gefahr: Ein Stich von einer Biene oder Hummel könnte bei ihr einen anaphylaktischen Schock auslösen. Ihr Immunsystem identifiziert die Proteine des Insektengifts fälschlicherweise als große Gefahr. Sofort schüttet es in übergroßen Mengen Histamin aus. Das führt unmittelbar zu einer Erweiterung der Blutgefäße – der Blutdruck fällt dramatisch ab, der Kreislauf kollabiert. Gleichzeitig zieht sich die glatte Muskulatur zusammen – beispielsweise die der Bronchien. Die Betroffenen bekommen Atemnot. Ihr Zustand ist lebensbedrohlich.
Jedes Jahr sterben in Deutschland zehn bis 40 Menschen nach einem Bienen oder Wespenstich. „Die Insektengiftallergie ist mit 55 Prozent sogar der häufigste Auslöser eines anaphylaktischen Schocks bei Erwachsenen“, erklärt Dr. Amann vom SLK Klinikum Heilbronn. „Danach kommen Arzneimittel mit 21 Prozent und Lebensmittel mit 16 Prozent. Immerhin lässt sich die Insektengiftallergie gut behandeln.
„Die Hyposensibilisierung hat mit über 90 Prozent die höchste Erfolgsrate von allen.“ Auch Roselinde Knörzer entschließt sich zu einer solchen Therapie, nachdem sie auf einen weiteren Bienenstich sehr heftig reagiert: „Ich war Mirabellen ernten. Da hat mich eine Biene in die Hand gestochen. Erst fing es wieder harmlos mit einem Kribbeln in den Fingern an. 15 Minuten später bekam ich dann Herzrasen und kaum mehr Luft. Da habe ich mir blitzschnell die Adrenalinspritze aus meinem Notfallset ins Bein gesetzt!“ Allerdings beseitigt das Adrenalin nur die Symptome. Eine Hyposensibilisierung dagegen kann Allergiker langfristig heilen.
Deshalb entscheidet sich auch Roselinde Knörzer dafür, sich in einer Klinik hyposensibilisieren zu lassen. „Insektengift-Hyposensibilisierungen werden bei uns zu Beginn grundsätzlich stationär durchgeführt“, erklärt der Allergologe Dr. Amann. „Immerhin bekommen die Patienten bei uns schon am ersten Tag sieben Spritzen mit gereinigtem Bienengift. Am zweiten Tag gibt es noch zwei. Am dritten eine. Danach werden die Patienten entlassen.“
Da nun eine Grundtoleranz besteht, kann der Hausarzt die Behandlung in seiner Praxis fortsetzen. Das Prinzip der Behandlung: Das Immunsystem soll lernen, dass das entsprechende Allergen keine Gefahr darstellt; es soll sich an das Bienengift gewöhnen. Dafür gibt der Arzt Roselinde Knörzer alle vier Wochen eine weitere Spritze Bienengift. „Anschließend muss ich dann immer eine halbe Stunde im Wartezimmer sitzen und warten, ob eine gefährliche Reaktion auftritt.“ Doch die bleibt aus. Nach einem Jahr überprüfen die Ärzte nun, ob ihr Behandlungsschema Erfolg hat – oder ob man möglicherweise die Dosis noch weiter erhöhen muss. Dafür nehmen die Ärzte alledings nicht das gereinigte Bienengift-Extrakt, mit dem sie die Hyposensibilisierung durchführen. Um ein sicheres Ergebnis zu bekommen, lassen sie Patienten von einem Insekt stechen.
Die Testungen werden mit Bienen und Wespen durchgeführt – je nach Allergie
Die Biene, mit der die Testung durchgeführt werden soll, hat übrigens Dr. Amanns Chef gezüchtet – er ist Freizeit- Imker. Die Wespen bringt entweder die Feuerwehr, wenn sie irgendwo ein Wespennest entfernt hat. „Ansonsten geht die ganze Abteilung mittwochs gemeinsam auf Wespenfang“, erklärt Dr. Amann. Das Wespengift ähnelt übrigens dem der Hornissen. Das Bienengift dem der Hummel. Dr. Amann schüttelt vorsichtig ein Insekt aus dem Plastikbecher in ein Netz, das an einen kleinen Kescher erinnert. Darin drückt er die Biene auf den Unterarm seiner Patientin, damit sie sticht. Unruhig krabbelt das Tier über Roselinde Knörzers Arm. Die Schwäbin hält die Luft an. Nichts passiert. Bienen sind von Natur aus eher friedliebend. Deshalb verursachen sie auch nur ein Fünftel aller allergischen Reaktionen – viel häufiger stechen Wespen zu. Dementsprechend schneller verläuft mit diesen Tieren dann auch die Testung. Dr. Amann beginnt, die Biene mit einer Pinzette zu reizen. Doch auch das stört das Insekt nicht. Es sucht weiter nach einer Fluchtmöglichkeit. „Das ist aber ein ganz besonders braves Exemplar“, sagt der Arzt. Ganze zehn Minuten dauert es, bis die Biene endlich zusticht. Eine volle Minute lang gibt sie ihr Gift ab. Roselinde Knörzer verzieht ihr Gesicht: „Das brennt.“ Trotzdem unterdrückt sie den Impuls, das Insekt abzuschütteln. Dr. Amann schaut aufmerksam von ihr zu seinen Geräten. Alle warten angespannt, wie die Patientin reagiert. Zuerst bildet sich eine Quaddel. Dann schwillt der ganze Arm an. Aber der Blutdruck bleibt stabil. Und auch die Atmung bereitet keine Probleme. Das ist ein gutes Zeichen: Die Hyposensibilisierung war erfolgreich. Roselinde Knörzer freut sich. „Ich kann das jedem nur empfehlen. In den vergangenen Jahren war jede Biene eine Bedrohung für mich. Jetzt kann ich mich wieder unbeschwert bewegen.“ Trotzdem muss Roselinde Knörzer ihre Therapie noch vier Jahre fortsetzen. Erst dann kann sie davon ausgehen, dass der Schutz ein Leben lang bestehen bleibt. Ihr Notfallset wird sie vorsichtshalber trotzdem immer bei sich tragen.